Bildquelle: Josef Lamozik

 

Wir erinnern an Siegfried Servos
Geboren: 28.10.1899 in Kempen
Gestorben: Gestorben: 17.11.-22.12.1938 in Dachau
weiteres Schicksal unbekannt
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Alte Schulstr. 9
Verlegedatum: 18.12.2017
Patenschaft: Familie Katharina und … Köhne

 

 

Wir gedenken der jüdischen Familie Servos, Vorster Str. 16

Der jüdische Viehhändler Salomon, genannt Sally, Servos und seine Ehefrau Nanni waren 81 bzw. 76 Jahre alt, als sie im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden und dort umkamen. Damit waren sie aus Kempen die ältesten jüdischen Bürger, die die Nazis ermordeten.

Am Vormittag des 10. November 1938, währen der Pogromnacht, war ihre Wohnung an der Vorster 16 von Kempener SA-Männern demoliert worden. Ihr Sohn Siegfried, zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, wurde auf der Judenstraße, die seit 1933 Hindenburgstraße hieß, von der SA zusammengeschlagen. Er lag im Rinnstein und rief um Hilfe. Aber keiner, der vorbeikam, kümmerte sich um ihn. Siegfried oder Fritz Servos, wie er genannt wurde, wurde in das KZ Dachau bei München gebracht. Am 22. Dezember 1938 wurde er entlassen. Dann verliert sich seine Spur.

 

Am 10. Dezember 1941 wird die 45jährige Berta, die Tochter von Sally und Nanni Servos, mit zehn anderen Juden in das Getto von Riga, der lettländischen Hauptstadt, deportiert. Am 1. Januar 1945 verstirbt sie im KZ Stutthof bei Danzig.

Und ihre Eltern? Kurz vor Weihnachten 1941 werden die 32 Juden, die es damals in Kempen noch gibt, aus ihren bisherigen Wohnungen ausquartiert und in so genannten „Judenhäusern“ zusammengezogen. Sally und Nanni Servos werden in das Haus Josefstraße 5 gebracht, wo jetzt elf Menschen zusammengepfercht sind. Ihr Haus an der Vorster Straße 16, das sie 1903 gekauft hatten, steht leer. Niemand will es ankaufen, denn es ist reparaturbedürftig und, weil die Eheleute keine Rücklagen mehr hatten, mit Hypotheken belastet. Schließlich kauft der menschenfreundliche Kempener Bürgermeister Dr. Gustav Mertens es ihnen ab, für 11.000 Reichsmark, einem durchaus fairen Preis. Vorher hat er die einzelnen Gläubiger abgefunden.
20. Juli 1942: In Kempen wird die zweite Deportation jüdischer Bürger vorbereitet. Auf dem Deportationsbescheid, der Sally und Nanni Servos von einem Polizisten in das Haus Josefstraße 5 gebracht worden ist, steht, was die Menschen auf der Fahrt mitnehmen dürfen. Die beiden alten Leute sind von den Vorbereitungen überfordert. So wissen sie nicht, woher sie die Blechschüssel nehmen sollen, die man ihnen mitzunehmen zugestanden hat. Da gibt ihnen die Bauernfamilie Strumpen aus Schmalbroich die sauber geschrubbte Schüssel ihrer Katzen mit.
Drei Tage vor der Deportation nach Theresienstadt schreibt der 81jährige Sally Servos in seiner Verzweiflung und Ratlosigkeit einen Brief an seine drei Kinder: an Berta, die man am 10. Dezember 1941 nach Riga deportiert hatte; an Fritz, der nach der Pogromnacht vom 10. November 1938 emigriert war; und an eine uns unbekannte Tochter namens Nanni. Ein Abschiedsbrief in der Absicht, seinen Kindern für den Fall, dass eines von ihnen doch noch nach Kempen zurückkommen würde, eine Nachricht zukommen zu lassen. Der alte Mann deponierte den Brief auf dem abgelegenen Hof von Martin Strumpen in Schmalbroich, Wall 189, damit er nicht von den falschen Leuten gefunden würde. Mit dem „Pfleger“ ist der von den Nazis bestellte Vermögensverwalter der jüdischen Familie, der Steuerberater Dr. Bruno Erkes, gemeint. 1933 war Erkes in Kempen als erster NS-Bürgermeister eingesetzt worden, trat dann aber, als er die Zusammenhänge zu durchschauen begann, zurück, und versuchte, den jüdischen Bürgern zu helfen. Viel ausrichten konnte er nicht mehr.

Sally Servos starb in Theresienstadt am 19. November 1942, seine Ehefrau Nanni sechs Tage später. Ihre Tochter Berta kam Anfang 1945 im KZ Stutthof bei Danzig um. Über den Verbleib ihres Bruders Fritz ist nichts bekannt.

Der Text des Briefes lautet: „Kempen, 19. Juli 42.

Meine lieben Kinder

Betra, Fritz und Nanni!

 

Wenn Ihr diese Zeilen zu lesen bekommt,

so kann sich schon vieles ereignet haben.

Heute ist der 19. Juli 42 und am 24.

müssen wir alle hier fort wie es heißt

nach T(h)eresienstadt in Böhmen. Es ist

überaus traurig, daß wir alten

Leute noch fort müssen. Alle Leute

hier haben Mitleid mit uns. Was

soll ich viel schreiben. Hoffentlich

sehen wir uns in nicht zu ferner

Zeit wieder. Geht zu unserem Pfleger

Dr. Erkes mit dem ich in den

letzten Tagen alles besprochen habe.

Tante Sarah und Jupp müssen auch

fort. Also wünsche ich Euch noch

alles, alles Gute und verbleibe

mit vielen Grüßen und Küssen

Euer

                   Vater

 

N.B. Mutter ist so aufgeregt,

kann selbst nicht schreiben.

Sie lässt Euch vielmals grüßen

und küssen und hofft auch auf

ein frohes Wiedersehen.

Vater“

Am frühen Morgen des 24. Juli 1942 werden die Juden aus ihren Häusern geholt. Der größte Teil der Deportierten ist schon älter und kann nicht mehr gut laufen. Als Transportmittel dient deshalb ein Lastwagen, den die Kempener Polizei vom Spediteur Max Nauels, Bahnstraße (heute: St. Huberter Straße) 7, gemietet hat.

Von der Burgstraße rollt der Lkw mit den Deportierten auf der offenen Ladefläche über die Thomasstraße, überquert den Ring und fährt weiter zum Bahnhof der Industriebahn, des so genannten „Schluff“. Der bringt die Deportierten zum Krefelder Südbahnhof, von dem sie zu Fuß zum Hauptbahnhof gelangen. Hier übernehmen Gestapo-Beamte der Außendienststelle Krefeld die weitere Überwachung der Juden, bis diese in den Zug nach Düsseldorf-Derendorf einsteigen. Von dort fahren sie am nächsten Tag nach Theresienstadt ab.

Theresienstadt ist im 18. Jahrhundert als Festungsstädtchen für 3500 Soldaten und Zivilisten erbaut worden. Es gilt als „Vorzeige-KZ“ der Nazis, das privilegierten und älteren Menschen vorbehalten ist. Eine sorgfältig präparierte Abteilung wurde sogar von einer Kommission des Schweizer und dänischen Roten Kreuzes inspiziert. Jetzt sind dort ständig 40 000 bis 50 000 Menschen auf weniger als einem Quadratkilometer tschechischer Erde zusammengepfercht: „Ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen… Nicht einmal im Klo war man allein, denn draußen war immer wer, der dringend musste.“ Im Schnitt verfügt jeder Getto-Insasse im August 1942 über einen „Wohnraum“ von 1,6 Quadratmetern.

Die Essens-Rationen sind erbärmlich: „Wer es nicht mit angesehen hat, wie die alten Menschen sich am Schlusse der Essensausgabe auf die leeren Fässer stürzten, mit den Löffeln sie auskratzten, selbst die Tische, auf denen ausgeteilt wird, nach Resten mit Messern untersuchten, der vermag sich kein Bild davon zu machen, wie schnell Menschenwürde verloren geht“, hat ein Überlebender berichtet. Alles in allem sind fast 140 000 Menschen dorthin deportiert worden, von denen nicht einmal 18 000 bei Kriegsende befreit werden konnten. – In Theresienstadt sterben die Eheleute Nanny und Sally Servos im Abstand von nur sechs Tagen: Sally Servos am 19. November 1942, Nanny am 25.

Vorlage: Hans Kaiser, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2, S. 713.