Gedenkkultur in Kempen
Hans Kaiser
Die bisherigen Mahnmale
„Wozu Stolpersteine?“ fragt mancher in Kempen. „Haben wir nicht Mahnmale genug?“
Schau`n wir mal hin.
Erst 37 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches wurde an der Umstraße, wo die 1938 von Kempener Nazis niedergebrannte Synagoge gestanden hatte, ein Mahnmal aufgestellt. Vorangegangen war im Stadtrat eine fünfjährige, oft unwürdige Debatte, in der man hauptsächlich nach der kostengünstigsten Lösung suchte und offensichtlich auf Unauffälligkeit bedacht war: Vergangenheitsbewältigung durch Verdrängen und Vergessen nannte das damals der RP-Redakteur Gert Udtke.
Indes muss man den damals Verantwortlichen zugute halten, dass es kaum Anregungen gab. Denkmäler über Judenverfolgung – das war neu in Deutschland. Am 7. Juli 1982 wurden dann in aller Stille zwei Bronzeplatten auf die fertig gemauerte Stele geschraubt. Das geschah eigenmächtig auf Veranlassung des Künstlers, Johann Peter Heeck aus Kranenburg, d. h. ohne Absprache mit der Stadt, die eine Einweihung zusammen mit der jüdischen Kultusgemeinde gewünscht hatte.
Leider zeigen die Tafeln für die Kempener „Kristallnacht“ ein falsches Datum und führen nur Familiennamen auf, was einen anonymen Eindruck hinterlässt. Ein Familienname (der von Sofie Buchdahl) fehlt. Erst eineinviertel Jahre später, am 18. Dezember 1983, wurde die Gedenkstätte mit einer ökumenischen Feier eingeweiht.
Am 27. Januar 2004, dem Holocaust-Gedenktag, wurde im Zentrum der Stadt, am Rathausturm, eine schmale Gedenktafel eingeweiht, die in vertiefter Schrift die Namen der Opfer zeigt.
Ehrenwert, aber fehlerhaft: Die Tafel am Rathaus
Dieses Mahnmal trägt eine bewegende Widmung, enthält aber bei der Aufführung von 82 Opfern rassistischer Verfolgung zahlreiche sachliche Fehler.
Acht Namen fehlen: Sofie Buchdahl, Moritz Lambertz, Regina Lambertz, Karoline Marx, Isidor Rath, Julie Rath, Else Winter, die nicht verwechselt werden darf mit der auf der Stele unter Nr. 66 dokumentierten Else Winter; Karolina (Linchen) Winter.
Neun Namen gehören nicht auf die Stele, weil sie bereits zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung verstorben oder von Kempen weggezogen waren oder weil sie in Wirklichkeit woanders wohnten: Julie Lambertz, Simon Lambertz, Helene Winter, Johanna Winter, Selma Winter und ihre Kinder Erich und Grete, Beate Servos und Klementine Winter.
Zwei Personen sind mehrfach genannt: Abraham bzw. Albert Goldschmidt ist ein und dieselbe Person, erscheint aber auf der Stele dreimal ; Luise Rath kommt zweimal vor.
20 Angaben sind also fehlerhaft, aber das kann den Respekt vor der ehrenwerten Absicht der damaligen Initiatoren nicht mindern, denn ihre Motive nach den Jahrzehnten des Verschweigen-Wollens waren lobenswert. Dass ihr Verzeichnis den Forschungsstand von 2003 spiegelt, kann man ihnen nicht anlasten.
Mittlerweile ist dieses Manko ausgeglichen: Wenn bei der jährlichen Gedenkfeier am 27. Januar der Bürgermeister die Namen der verfolgten jüdischen Bürger vorliest, dann geschieht das auf der Grundlage der oben stehenden neuesten Forschungsergebnisse. Nunmehr erhält wirklich jedes Opfer von Tod und Verfolgung die ihm zustehende Würdigung.
In diese Tradition, Erinnerung lebendig zu halten, fügt sich die Verlegung von Stolpersteinen in Kempen konsequent und bereichernd ein. Ihre Absicht ist, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung vollständig und mit authentischen Namen und Daten zu dokumentieren und mit ihren knappen Texten davor zu warnen, dass ein ähnliches Unrecht, wie unter den Nazis geschehen, sich in Deutschland nicht wiederholt.
Tafeln statt Stolpersteine?
Eine von zwei bisher angebrachten Tafeln: Wohnhaus der emigrierten Familie Winter, Kerkener Straße 1.
Als Argument gegen die Stolpersteine wird in Kempen angeführt, dass mit Bildern und Texten versehene Tafeln doch instruktiver und würdiger seien. Am 12. Juli 2011 hatte sich der Stadtrat in Mehrheit gegen Stolpersteine entschieden. Daraufhin rief der Verfasser dieses Textes mit anderen Bürgern eine „Initiative gegen das Vergessen“ ins Leben und installierte Tafeln an den ehemals jüdischen Häusern Vorster Straße 2 und Kerkener Straße 1 – als Notlösung, weil er Stolpersteine in Kempen nicht mehr für möglich hielt.
Aber diese Tafeln sind nur begrenzt einsetzbar, denn drei Häuser von insgesamt sechs NS-Opfern (Möhlenwall 19, Josefstraße 7 und die frühere Umstraße 8) sind mittlerweile durch Straßen oder Gehwege ersetzt worden. Augenfällig sind solche Tafeln nur, wenn sie Bilder der NS-Opfer zeigen. Die aber sind eben nur in geringem Umfang vorhanden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollten solche Tafeln nur an Häusern angebracht werden, in denen die dokumentierten Menschen tatsächlich gelebt haben. Das ist nur noch bei wenigen Gebäuden möglich.
Warum also Stolpersteine?
Die allgemeine Haltung zu den Stolpersteinen ist zustimmend. Es gibt aber auch Gegenargumente. Manche kritisieren die Massenproduktion, mit der, wie sie annehmen, Demnig viel Geld verdiene. Zuverlässigen Informationen zufolge führt der Hersteller der Stolpersteine jedoch ein bescheidenes Leben. Andere finden es unwürdig, dass Mahntafeln „mit Füßen getreten“ würden. Dabei lassen sie außer acht: Es sind nicht Menschen, es sind Steine, auf die man hier tritt. Unbestreitbar ist: Die Stolpersteine ermöglichen eine zusätzliche, andere Form des Gedenkens. Ihre Vielzahl veranschaulicht unmittelbar die unfassbar große Zahl der Opfer. Die Verlegung an vielen Orten ermöglicht ein gemeinsames, solidarisches Gedenken und macht unsere gesamtdeutsche Verantwortung deutlich.
Herkömmliche Mahnmale fassen die Opfer summarisch zusammen. Die Stolpersteine jedoch liegen vereinzelt, sie verkünden eine individuelle Botschaft. Mit ihrer glänzenden Farbe fallen sie ins Auge. Das spricht vor allem junge Menschen an, die die eher unauffälligen, offiziellen Mahnmale nicht wahrnehmen.
Den Steuerzahler kostet die Verlegung nichts. Paten kommen für die Unkosten der von ihnen gesponserten Steine auf und kümmern sich um ihre dauerhafte Pflege.
An wen sollen die Kempener Stolpersteine erinnern? 35 jüdische Bürger aus dem Gebiet der heutigen Stadt Kempen sind während des Dritten Reiches ermordet worden, darunter zwei Kinder. Die Deportation wurde mithilfe einer Kartei der Stadtverwaltung durchgeführt, Kempener Polizisten – damals noch dem Bürgermeister unterstellt – brachten die Todgeweihten zur Bahn. In der Mädchenüberschule wurde die Habe der Deportierten öffentlich versteigert, viele Kempener fuhren die Schnäppchen auf Bollerwagen davon. Aber „Stolpersteine“ beziehen sich nicht nur auf jüdische Opfer. Im Rahmen der Euthanasie sind aus Kempen mindestens sieben Menschen umgebracht worden, aus St. Hubert mindestens zwei. Drei polnische Zwangsarbeiter wurden gehenkt. Zwei Kempener wurden Opfer politischer Verfolgung. 46 Menschen aus Kempen insgesamt, die ihr Leben durch den Nazi-Terror verloren. Jüngsten Forschungen zufolge ist sogar mit 50 Opfern zu rechnen.
Die Opferschicksale, die auf den Stolpersteinen dokumentiert sind, werden in einem eigenen Abschnitt dieser Website dargestellt (Biographien).
Erst abgelehnt – dann doch genehmigt
Erstmals 2011 brachte Philipp Wachowiak, damals noch Ratsherr für die Unabhängigen, einen Antrag ein, solche Steine auch in Kempen verlegen zu lassen. Das lehnte der Stadtrat am 12. Juli 2011 in geheimer Abstimmung ab; mit 21 Nein-, 15 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen.
Ein zweiter Anlauf folgte drei Jahre später. Im Namen von vier Kempener Schulen und der evangelischen Kirchengemeinde richtete eine Initiative am 21. August 2014 einen erneuten Antrag auf Verlegung der Gedächtniszeichen in der Stadt Kempen an den Kempener Rat. Unterzeichnet wurde er von Ute Gremmel-Geuchen, Organistin und Schulpflegschaftsvorsitzende am Gymnasium Thomaeum; Alexander Tauber, Schülersprecher dieses Gymnasiums; Roland Kühne, Pfarrer der evangelischen Gemeinde Kempen und Lehrer am Rhein-Maas-Berufskolleg; Pfarrer Bernd Wehner, Vorsitzender des Presbyteriums der Evangelischen Kirchengemeinde Kempen. Vor allem die Aktivität der Jugendlichen hat seither in Kempen bei vielen, die ein solches Projekt bisher ablehnten, zu einer Meinungsänderung geführt.
Am 4. November 2014 sprach sich der Kempener Kulturausschuss mit 10:4 Stimmen dafür aus, dem Rat zu empfehlen, den Antrag auf Verlegung der Stolpersteine in Kempen anzunehmen. Dieser Empfehlung folgte der Stadtrat in seiner letzten Sitzung in 2014, am Dienstagabend, 16. Dezember, in geheimer Abstimmung mit 29 zu 15 Stimmen.
Kempens Bürgermeister Volker Rübo, selbst ein erklärter Gegner der Stolpersteine, nahm die Entscheidung des Stadtrates sportlich und die Initiative in die Pflicht: „Jetzt dürfen Sie durchstarten“, sprach er einen der Initiatoren an, den Berufsschulpfarrer Roland Kühne, und fuhr, auch an die anderen gewendet, fort: „Ich halte es für wichtig, dass das Projekt jetzt, wie von Ihnen angekündigt, vor allem von den Schulen getragen und im Unterricht thematisiert wird.“
Genau das ist die Absicht der Initiatoren. Sie beabsichtigen eine intensive pädagogische Arbeit. Ab sofort wird Kempener Schulen die Mitarbeit von Experten angeboten: in Form von Unterricht in den Schulen; von Stadtrundgängen mit illustrierten, selbst angefertigten Broschüren; von Besuchen des jüdischen Friedhofs und des Kreisarchivs.
KONTAKT
Ute Gremmel-Geuchen
(Sprecherin der Initiative
PROJEKT STOLPERSTEINE)
Ludwig-Jahn-Str.12
47906 Kempen
Tel. 02152/517541