Familie Winter
Wir erinnern an Dr. Karl Winter
Geboren: 6.7.1892 in Kempen
Gestorben: 16.9.1959 in Israel
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Kerkener Straße 1
Verlegedatum: 9.6.2022
Patenschaft: Petra van de Lageweg
Wir erinnern an Berta Winter, geb. Baum
Geboren: 20.5.1890 in Kempen
Gestorben: 18.12.1982 in Israel
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Heilig-Geist-Straße 21
Verlegedatum: 9.6.2022
Patenschaft: Viktoria Müllenbusch
Wir erinnern an Mirjam Winter, verh. Honig
Geboren: 17.8.1922 in Kempen
Gestorben: lebt in Eindhoven
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Heilig-Geist-Str.21
Verlegedatum: 9.6.2022
Patenschaft: Christian und Miriam Sustrath
Wir erinnern an Ruth Winter
Geboren: 21.10.1929 in Kempen
Gestorben: 16.4.2008 in Israel
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Heilig-Geist-Straße 21
Verlegedatum: 9.6.2022
Patenschaft: Rita Fuchs-Gallach
Das Wohnhaus der Familie Winter Ecke Möhlenring/Aldekerker (heute: Kerkener) Straße
Dr. Karl Winter
Berta Winter, Karls Ehefrau
An der Ecke Möhlenring/Kerkener Straße, wohnte seit 1931 mit seiner Frau Berta und seinen beiden Töchtern Mirjam und Ruth der Kempener Anwalt und Notar Dr. Karl Winter. Er war bei vielen christlichen Familien wegen seines Humors und seiner Uneigennützigkeit beliebt.
Am 30. Januar 1933 kommen die Nazis an die Macht. Nun wird der Antisemitismus Staatsdoktrin. Auch in Kempen ändert sich die freundliche Atmosphäre, die bisher gegenüber den jüdischen Bürgern geherrscht hat.
Am 7. April 1933 wird den jüdischen Anwälten mit einem Gesetz die Ausübung ihres Berufes verboten. Dr. Winter hat seine Kanzlei an der Kuhstraße 31 betrieben, im Gebäude der heutigen Sparkasse. Am 24. Juli 1933 muss er sie aufgeben. Er ist in der Region einer der ersten jüdischen Anwälte, die nun auf der Straße stehen. Karl Winter weiß nicht, wie er seine Familie durchbringen soll. Da bietet ihm der St. Töniser Krawattenfabrikant Hans Romberg eine Stelle an: Dr. Winter soll in Rombergs Auftrag Krawatten verkaufen. Aber der Gewerbeschein wird ihm vom Kempener Ordnungsamt bald entzogen. Da versucht der Jurist sein Glück als Schlipsvertreter jenseits der holländischen Grenze. Bunte Binder und Hosenträger im Musterkoffer, begibt er sich jeden Tag über den Grenzübergang Kaldenkirchen in die Niederlande, bietet dort an den Haustüren seine Waren an. Bei seinem täglichen Grenzübergang gewinnt der freundliche Mann aus Kempen die Sympathie der Beamten vom deutschen Zollgrenzschutz und der holländischen Grenswacht. So bekommt er ungehindert Zutritt zu den grenznahen niederländischen Dörfern. Bei der bäuerlichen Handelsgenossenschaft in Sevenum am Rande des Moorgebietes Grote Peel, ist er bald ein geschätzter Geschäftspartner. Die deutsch-holländischen Kontakte, die Dr. Winter in dieser Zeit knüpft, werden für seine Familie bald lebensrettend.
1934 muss die Familie Winter aus ihrer schönen Wohnung im Erdgeschoss des Hauses ausziehen. Die Wohnung übernimmt der SA-Sturmführer Hans Güldner, der als Vollziehungsbeamter bei der Stadtverwaltung arbeitet. Am 1. Oktober 1934 müssen die Winters die bisher leerstehende Wohnung im ersten Stockwerk beziehen. Allerdings ist dort die Küche praktisch unbenutzbar: Das Fenster kann nicht geöffnet werden, Tapete und Decke sind verschmutzt, der Putz fällt herunter. Im Schlafzimmer ist der Fensterrahmen teilweise verfault. Der SA-Führer Güldner lässt vor dem Gebäude SA-Männer zum Singen antijüdischer Hetzlieder antreten. Nachts bedient er sich ungefragt im Obstgarten der Familie Winter, was seiner Frau überaus peinlich ist. „Ich sehe sie noch vor mir, wie sie sich bei meiner Mutter für ihren Mann entschuldigte, aber sie konnte nichts machen“, erinnert sich Karl Winters Tochter Mirjam, damals 13 Jahre alt.
SA-Männer
Am 15. September 1935 verkündet Hitler auf dem alljährlichen Reichsparteitag der Nazis in Nürnberg die Nürnberger Rassegesetze. In Deutschland stehen die Juden nun außerhalb der so genannten Volksgemeinschaft. Sie gelten als Menschen zweiter Klasse. In Kempen wird die Familie Winter behandelt wie Aussätzige. Mirjam und ihre jüngere Schwester Ruth (damals sechs Jahre alt) berichten dem Vater voller Bestürzung, wie sie von den Spielkameraden gemieden werden. „Auf der Straße sahen die Menschen an uns vorbei“, hat sich Mirjam Winter erinnert.
In der Schule muss Mirjam nun allein sitzen. Zum Schwimmen ins städtische Bad an der Burgstraße darf sie nicht mehr. Als sie dort beim Schulschwimmen an der Kasse vorbeigestürmt ist, hat der Kassierer sie zurückgerufen und, ohne ein Wort zu sagen, nur nach oben gezeigt. „Da hing ein Schild: ‚Zutritt für Juden verboten!’“ erinnert sich Mirjam Winter. Und sie empfindet heute noch, was sie damals fühlte: „Als ich das sah, schnitt es mir wie ein Messer durch den Leib.“ Auch vor den Spielplätzen und an den Parkbänken sind Schilder angebracht mit der Aufschrift: „Für Juden verboten!“
Als Dr. Winter all das aus dem Mund seiner Kinder hört, entschließt er sich zur Emigration. In Kempen hält niemand mehr zu ihm – außer seiner Sekretärin Änne Pasch. 1935 zieht sie nach Berlin und wird dort untergetauchte Juden verstecken. Irgendwann wird Dr. Winter seiner Tochter Mirjam erzählen, dass der Ausdruck ihrer Augen, als sie ihn fragte: „Vater, was haben wir nur getan?“ den letzten Anstoß zum Weggang geliefert hätte. Zum 1. Dezember 1935 kündigt Dr. Winter die Wohnung im oberen Stockwerk des Hauses Kerkener Straße 1. Im Januar 1936 verlegt der Jurist mit seiner Ehefrau Berta und seinen beiden Töchtern den Wohnsitz in die Niederlande.
Die Familie Winter lässt sich zunächst in Venlo nieder. Ein Kohlenhändler, froh, in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten Mieter zu finden, vermietet ihnen ein neues Haus und beliefert sie im Winter umsonst mit Kohlen. Aber die Geldsorgen hören nicht auf. Entgegen allen antisemitischen Vorurteilen ist der jüdische Krawattenhändler Dr. Winter kein Geschäftsmann; sogar seine Kunden raten ihm, höhere Preise zu nehmen. Am 10. November 1938, während der so genannten „Kristallnacht“, haben Kempener SA-Männer dem 93jährigen Vater Dr. Karl Winters, Simon Winter, die Wohnungseinrichtung Ellenstraße 5 demoliert. Den alten Mann haben sie zu Boden geschlagen. Daraufhin beantragt Karl Winter bei der Venloer Polizei, den Vater in die Niederlande nachkommen zu lassen: Er habe große Sorge um seine Gesundheit. Simon Winter hat 1866 am Krieg Preußens gegen Österreich teilgenommen und 1870/71 am deutsch-französischen Krieg, durch den Deutschland geeint wurde. Weil sein Land, für das er damals sein Leben eingesetzt hat, ihm nun nach dem Leben trachtet, sucht er im Ausland Sicherheit bei seinem Sohn. Im März 1939 ist Simon Winter in den Niederlanden in Sicherheit. Dr. Winter hilft jüdischen Flüchtlingen, die heimlich über die Grenze gekommen sind, und er nimmt sie bei sich auf, obwohl sie keine Aufenthaltserlaubnis haben. Damit verstößt er immer wieder gegen die niederländischen Gesetze. Venlo liegt innerhalb eines 15 Kilometer breiten Kontrollstreifens längs der Grenze, und wegen seiner illegalen Flüchtlingshilfe kann Karl Winter mit seiner Familie jederzeit nach Deutschland zurückgebracht werden. So ziehen die Winters im Februar 1940 nach Eindhoven, wo die Tochter Mirjam heute noch lebt.
Die zwölfjährige Mirjam Winter mit ihrem Großvater Simon auf dem Weg von der Synagoge an der Umstraße
Im Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht die neutralen Niederlande. Dr. Winter bringt seinen Vater in einem Jüdischen Altenheim in Amsterdam unter. Dort stirbt der 97jährige Simon Winter am 12. Januar 1941; sein Sohn Karl ist bei ihm. Für die Fahrt nach Amsterdam hat er von der deutschen Kommandantur eine besondere Genehmigung bekommen. – Auf dem Judenfriedhof in Amsterdam ist Simon Winter auch begraben.
Der Judenstern
Unter der deutschen Besatzung muss Karl Winter seinen Krawattenhandel aufgeben. Um sich Lebensmittel zu verschaffen, verkauft die Familie nach und nach ihren Besitz, auch das von Mirjam heiß geliebte Klavier. Für die Juden gilt ein Ausgangsverbot von abends acht bis morgens um sechs. Wenn die Winters dann das Haus verlassen, müssen sie den Davidsstern auf der Kleidung tragen. Mit anderen jüdischen Familien müssen sie mit drei anderen Familien ein so genanntes Judenhaus beziehen – mit einer gemeinsamen Waschstelle und Küche.
Am 22. Februar 1941 findet im Amsterdam die erste Razzia auf Juden statt. Am 15. Juli 1942 beginnt die Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz. Es wird Zeit unterzutauchen, um sein Leben zu retten. Von den rund 170.000 Juden, die damals in den Niederlanden leben, gehen etwa 25.000 in den Untergrund, 8000 werden für ein Kopfgeld von 7,50 Gulden von Kollaborateuren verraten und in der Folge ermordet.
Mirjam Winter schildert, wie die Familie in den Niederlanden mit dem Leben davonkam:
Mirjam Winter, 17 Jahre alt
„Ich war gerade 20 geworden, als ich untertauchte. Das war im September 1942; in der Bevölkerung waren Gerüchte aufgekommen, die jungen Juden würden seit Juli zum Arbeitseinsatz nach Deutschland geholt. Dass die Transporte in Wirklichkeit über das Durchgangslager Westerbork für Auschwitz bestimmt waren, wussten wir nicht, denn wir hatten damals kein Radio und kein Telefon mehr. Ich trug den Davidsstern und in meinen Pass war auf Anweisung der Deutschen ein J gestempelt worden. So fragte ich eine gleichaltrige Bekannte – Diny Olofsen, sie arbeitete bei Philips – ob ich ihren Ausweis haben dürfte. Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende, da machte sie schon ihr Handtäschchen auf und gab mir ihren Pass, obwohl sie wusste, dass KZ darauf stand. Ihre Mutter hat dann der Polizei erzählt, Diny habe ihre Tasche mit den Papieren bei einem Luftangriff verloren. So bekam sie einen neuen Ausweis. In ihren Pass, den sie mir gegeben hatte, fügten Männer vom Widerstand mein Passbild hinein. Ein Nachbar, den ich schon längere Zeit kannte, der Lehrer Gerrit-Jan Honig, klingelte dann bei uns mit der Nachricht, ich stünde auf der Deportationsliste der niederländischen Polizei. Wieder half mir die Familie Olofsen. Ich war gerade zu einem gemütlichen Abend da, und die Sperrstunde, die für Juden um acht begann, kam immer näher. Da fasste ich mir ein Herz und rückte mit der Frage ’raus, ob ich bei ihnen übernachten dürfte. Mutter Olofson, die gerade am Bügelbrett stand, sagte nur, ohne aufzublicken: ‚Du kannst bei uns bleiben, bis wir was anderes gefunden haben.’ Denn in der kleinen Wohnung lebten bereits fünf Menschen. In dieser selbstverständlichen Weise, ohne irgendein Aufhebens davon zu machen, haben uns die Menschen in den Niederlanden bis zum Kriegsende geholfen. Ich fand zunächst ein Versteck in Eindhoven, das mir die evangelische Kirche vermittelt hatte. In der Nähe der Kirche kam ich bei einer protestantischen Familie unter; abends durfte ich den Kindern am Bett aus der Kinderbibel vorlesen. Auch wenn ich nie vor die Tür ging, wusste jeder in der Nachbarschaft, dass da jemand zu viel im Haus war. Aber alle haben geschwiegen. So kamen wir vier – meine Eltern Berta und Karl, meine Schwester Ruth und ich – an verschiedenen Orten unter. Wir wurden von einem Versteck in das andere weiter gereicht. Das Kriegsende erlebten wir in dem katholischen Dorf Sevenum. Der Ort mit seinen 3000 Einwohnern liegt nordwestlich von Venlo am Rand der Grote Peel, eines kaum begehbaren Sumpfgebiets; nur selten kamen deutsche Besatzer in die unwegsame Gegend. In Häusern und Gehöften hatten sich damals etwa 1000 untergetauchte Menschen versteckt – abgeschossene alliierte Flieger, politische Flüchtlinge, an die 100 Juden und sogar zwei russische Kriegsgefangene und zwei deutsche Deserteure.“
„ Am 22. November 1944 wurden wir von Soldaten der 15. schottischen Division befreit. Mit 20 anderen, die befreit worden waren, saßen wir in einer Tischlerei an einem großen Tisch und bekamen von den Schotten Tee, Kaffee und Schokolade.“
Mirjam Winter bei einem Empfang im Kempener Rathaus 2016