Simon Winter

Bildquelle: Rudolf Kastner

Wir erinnern an Simon Winter.

Geboren:         6.4.1844 in Kempen
Gestorben:       12.4.1941 in Amsterdam
Opfergruppe:   Jude
Verlegeort:      Ellenstr.5
Verlegedatum: 27.5.2019
Patenschaft:    Christa Lenze

Simon Winter wurde am 6. Oktober 1844 in Kempen geboren. Seine Eltern waren der Viehhändler Clemens Winter und dessen Ehefrau Emilia Cohn. Simon wurde zunächst Viehhändler wie sein Vater. Als junger Mann setzte er in zwei Kriegen sein Leben als Soldat für Deutschland ein: Er kämpfte 1866 für das Königreich Preußen, zu dem Kempen damals gehörte, gegen Österreich und nahm 1870/71 am Krieg gegen Frankreich teil. Für seine Tapferkeit erhielt er einen hohen Orden: das Eiserne Kreuz.

1898 richtete er im Haus Ellenstraße 5 ein Geschäft für Wäsche, Kurz- und Weißwaren ein, das heißt, er verkaufte den Kempenern Tischdecken, Bettwäsche, Unterwäsche, Nähgarn und Wolle. Seinen Handel mit Rindvieh betrieb er weiter.

Als er 86 Jahre alt war, setzte Simon Winter sich 1930 zur Ruhe. Sein Textilwarengeschäft übergab er an seine Tochter Henriette Winter, die man in Kempen Jettchen nannte. Am 30. Januar 1933 kamen die Nazis an die Macht. Am Samstag, 1. April 1933, führten sie in ganz Deutschland eine Hetzaktion gegen die jüdischen Geschäfte durch. Sie fand auch in Kempen statt. Auf die Schaufensterscheiben der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte wurden Plakate geklebt mit Parolen wie: Deutsche, wehrt euch – kauft nicht bei Juden!. Auch das Schaufenster des Textilwarengeschäfts von Simon und Jettchen Winter, Ellenstraße 5, Engerstraße 38, wurde mit solchen Hetzparolen versehen. Am 15. September 1935 verkündeten die Nazis die Nürnberger Rassegesetze. Diese Gesetze legten fest, dass die Juden außerhalb des deutschen Volkes stehen sollten. Als Folge dieser Gesetze traute sich kein Kempener Bürger mehr in Simon Winters Geschäft, und er musste es aufgeben.

Dann – kommt es zur Pogromnacht. Am 9. und 10. November 1938 brennen in ganz Deutschland die Synagogen; die Nazis verwüsten die Wohnungen und Geschäfte der Juden. In Kempen finden diese Aktionen am Vormittag des 10. November 1938 statt. Morgens um zehn Uhr plündern SA-Männer die Synagoge an der Umstraße. Sie zerschlagen das Mobiliar und zünden das Gebäude an. Dann nehmen sie sich die jüdischen Geschäfte und Wohnungen vor. Sie zerschlagen die Einrichtung, werfen die Trümmer der Möbel und die zerschlagenen Waren auf die Straße.

Kempen, 10. November 1938, Ellenstraße 5. Ein Trupp SA-Männer stürmt in den Kurzwarenladen der jüdischen Familie Winter, zerschlägt die Regale, wirft Stoffe und Wäsche auf die Straße. Dann wenden sie sich der darüber liegenden Wohnung zu. Hier tritt ihnen der 93jährige Simon Winter entgegen. Am Revers seiner Jacke hat er das Eiserne Kreuz angelegt, das man ihm für seine Tapferkeit im Krieg verliehen hat. Aber Deutschland, für das er damals sein Leben eingesetzt hat, trachtet nun ihm nach dem Leben. Die Kempener SA-Männer schlagen dem alten Mann ins Gesicht, er stürzt zu Boden. Seine fünfjährige Enkelin Elsa sieht mit an, wie die Wohnungseinrichtung zerschlagen wird.

Als die Nazis die Wohnung verlassen haben, stürzt die Familie Winter, der alte Simon, seine Kinder Emilie, Henriette und Salomon, seine Enkel Elsa und Gabriel, in Panik aus dem Haus. Das sehen an der anderen Seite der Ellenstraße die Besitzer des Hauses Nr. 37: Es gehört dem damaligen Leiter der Kempener DRK-Sanitätskolonne, Wilhelm Heinen, und seiner Frau Margaretha. Die Eheleute öffnen den verstörten jüdischen Nachbarn die Tür und bringen sie für mehrere Tage in den Mansardenzimmern im dritten Stockwerk des 1996 abgebrochenen Gebäudes unter. Die Heinens versorgen die Versteckten mit Essen, und andere DRK-Mitglieder, zum Beispiel die Näherin Elisabeth Wolters, wohnhaft an der Peterstraße, helfen dabei.

 

 

Es ist wahr: Die fünfjährige Propaganda der Nazis gegen die Juden hat auch in Kempen gewirkt. Trotzdem fühlen viele Bürger sich von den Ausschreitungen gegen die Juden, mit denen sie doch viele Jahre in guter Nachbarschaft gelebt haben, abgestoßen. Das Bewusstsein der meisten Menschen in Deutschland ist damals zwiespältig. Einerseits bewundern sie die Leistungen des nationalsozialistischen Staates, vor allem die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sie wissen nicht, dass Hitler hinter der glänzenden Fassade schon lange einen Krieg vorbereitet. Andererseits lehnen die meisten Menschen offene Gewalt gegen wehrlose Menschen ab. Bei vielen Kempenern hat Simon Winter, der als tapferer Soldat und solider Geschäftsmann bekannt ist, immer noch einen guten Ruf. Der ranghöchste Nationalsozialist in der Stadt ist damals der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Franz Hauzeur. Im schützenden Dunkel einer Novembernacht transportiert er den alten Simon Winter auf dem Gepäckträger seines Fahrrads in das Kempener Krankenhaus, das von katholischen Ordensfrauen geleitet wird.

Die Ursulinen stellen dem alten Mann ein Bett zur Verfügung und versorgen seine Wunden im Gesicht. Als bekannt wird, was Hauzeur für den jüdischen Nachbarn getan hat, wird er als Ortsgruppenleiter abgesetzt. Trotzdem gewährt Anfang März 1939 der Kempener Bürgermeister Dr. Gustav Mertens in aller Stille dem alten Simon Winter ein zinsloses Darlehen, damit er die hohen Abgaben entrichten kann, die einem Juden für die Emigration ins Ausland vorgeschrieben sind.

Denn Simon Winter hält es in Kempen nicht mehr aus. Er möchte zu seinem Sohn Dr. Karl Winter, der Deutschland mit seiner Familie bereits 1936 verlassen hat und in die Niederlande gegangen ist. Im April 1940 trifft Simon Winter bei seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen Enkelkindern in Eindhoven ein. Als der Vater dann altersschwach wird, bringt Karl Winter ihn in einem. Jüdischen Altenheim in Amsterdam unter.

Dort ist der 97jährige Simon Winter am 12. Januar 1941 verstorben. Sein Sohn war bei ihm, als er starb. Die Niederlande waren zwar schon seit dem Mai 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Aber um bei dem Vater sein zu können, hatte Karl Winter sich von der deutschen Kommandantur in Amsterdam eine besondere Genehmigung beschafft. Auf dem Judenfriedhof in Amsterdam ist Simon Winter auch begraben.

Text. Gesamtschule Kempen in Zusammenarbeit mit Dr. Hans Kaiser