Wir erinnern an Marian Kurzawa
Geboren: 21.11.1914 bei Turek/Polen
Gestorben: 21.6.1941 in Sachsenhausen
Opfergruppe. Zwangsarbeiter
Verlegeort: Engerstr.21
Verlegedatum: 15.12.2015
Patenschaft: Verein most
Die Familie Nopper war in Kempen hoch angesehen. Johannes Nopper war einer der führenden Köpfe des Zentrums, der Partei des politischen Katholizismus. Als im
Juni 1933 der Zentrums-Fraktionschef Peter Kother unter dem Druck der Nazis das Amt des Ersten Beigeordneten der Stadt Kempen an einen Nationalsozialisten abgab, wurde Johannes Nopper von der Zentrums-Mehrheit zum Zweiten Beigeordneten gewählt. Nopper nahm die Wahl zwar an, übte aber seine Funktion dann doch nicht aus, damit Kother nun wenigstens als Zweiter Beigeordneter tätig sein konnte.
Der Ort des Geschehens. Das Haus der Bauern Johannes und Jakob Nopper, Engerstraße 21. Hier vollzog sich im Dezember 1940 eine Tragödie: Der Melker Josef Gessmann denunzierte seinen Arbeitskollegen, den polnischen Zwangsarbeiter Marian Kurzawa, wegen angeblicher geschlechtlicher Beziehungen zu einer jungen deutschen Magd. Obwohl Nopper die Denunziation zu entkräften und den Polen zu schützen versuchte, wurde Kurzawa schließlich gehenkt. Ursprünglich sollte die Hinrichtung sogar vor dem Gebäude auf der Engerstraße stattfinden. Das Bild zeigt Haus Nopper (später Schätzlein, heute Kaisers) um 1960.
Auf dem Hof an der Engerstraße arbeitete auch der aus Uedem stammende 50jährige Melker Josef Gessmann. Im Dezember 1940 denunzierte er Kurzawa – nicht bei der Kempener Polizei, sondern bei der Krefelder, denn Gessmann wollte vermeiden, dass seine Denunziation im Ort bekannt wurde und er dadurch seine Arbeitsstelle verlor.
Nach Gessmanns Bericht hätten Kurzawa und ein anderer bei Nopper arbeitende Pole namens Thaddäus (der Nachname wird in den Gestapo-Akten nicht genannt) mit dem siebzehnjährigen Dienstmädchen Gertrud Giesen sexuellen Kontakt gehabt und ihr dafür Zigaretten und eine Damenarmbanduhr geschenkt. Einer der beiden Polen soll, während die beiden anderen Verkehr miteinander hatten, Schmiere gestanden haben. Gessmann spielte sich in seinen Aussagen als empörter Wächter germanischer Rassen-Ehre auf, der wacker dazwischen geht, wenn das deutsche Mädchen und der polnische Mann sich körperlicher Berührung schuldig machen: […] hat die Angeklagte vorsätzlich mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang gepflogen, die das gesunde Volksempfinden gröblichst verletzt […]. Am 27.12.1940 kam es soweit, dass sie in der Küche des Bauernhauses mit Kurzawa tanzte; sie stellte das Tanzen erst dann ein, als der ebenfalls anwesende Melker Gessmann ihr einen Tritt versetzte.
Im Januar 1941 wurden die Beschuldigten von der Kempener Ortspolizei vernommen – vom Polizeihauptwachtmeister Ludwig Oberdieck, der in Kempen die Kriminalabteilung leitete. Dabei bestritt Marian Kurzawa die Anschuldigungen und stellte sie als Racheakt dar: Mit dem Melker verstehe ich mich nicht gut. Er hat mir schon wiederholt Vorhaltungen gemacht, dass ich als Zivilarbeiter unterschrieben habe und damit dem Bauer eine billige Arbeitskraft stelle. Das Mädchen habe ich schon wiederholt geneckt, weil sie mit so vielen Kavalieren umging. Ich glaube, dass sie mich durch ihre Angaben schädigen will. Gertrud G. gab an, mit den beiden Polen eng befreundet und mit Kurzawa insgesamt zweimal intim gewesen zu sein. Kurzawa habe beide Male gegen ihren Willen gehandelt; sie habe sich gewehrt. – Josef Gessmann sagte dagegen aus, Gertrud Giesen habe, als er sie auf Marian Kurzawa ansprach, geäußert: Ich kann nichts daran machen, ich liebe ihn.
Noch am Tag ihrer Vernehmung wurde Gertrud Giesen in das St. Töniser, Marian Kurzawa in das Kempener Polizeigefängnis eingeliefert. Wenige Tage später fand eine rassenbiologische Untersuchung des Polen im Ergänzungsamt der Waffen-SS in Düsseldorf statt. Das Gutachten war sein Todesurteil: Er käme, da er ostisch, ostbaltisch mit leichtem nordischem Einschlag sei, für Eindeutschungszwecke nicht in Betracht. Nun plante das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, ihn aus Gründen der Abschreckung in der Nähe des Tatorts zu hängen. Nach einigen Monaten erschienen einige höhere Gestapobeamte bei dem Kempener Bürgermeister Dr. Mertens und teilten ihm mit, der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, habe die Erhängung Kurzawas auf der Engerstraße vor dem Hause Nopper angeordnet. Sowohl Mertens als auch der Kempener Polizeichef, Polizeimeister Walter Rummler, der zu der Besprechung hinzugezogen worden war, protestierten mit aller Entschiedenheit, zumal Kurzawa seine Vergehen nicht zugegeben hatte und Aussage gegen Aussage stand. Auch aus der Kempener Bevölkerung muss massive Kritik gekommen sein. Daraufhin teilte die Gestapo Düsseldorf, nachdem sie die Kempener Kreisverwaltung konsultiert hatte, dem Reichssicherheitshauptamt im März 1941 mit: Die Landgemeinde Kempen zählt rund 8000 Einwohner. Die Bevölkerung ist überwiegend katholisch und sieht, wie die Erfahrung gelehrt hat, in den Polen nicht so sehr den Erzfeind des Deutschtums, sondern den frommen, gläubigen Menschen. Der Vollzug der Todesstrafe am Tatort würde von Seiten der nicht besonders geschulten und konfessionell stark gebundenen Landbevölkerung unter Umständen eine große Abneigung gegen die Partei und die Behörden hervorrufen.
Dieses Risiko wollte Gestapo-Chef Heinrich Müller denn doch nicht eingehen. Er verlegte die Exekution von Kempen ins KZ Sachsenhausen bei Berlin. Dort wurde Marian Kurzawa am 21. Juni 1941 um 12:45 Uhr erhängt.
Marian Kurzawa hat bis zuletzt das ihm zur Last gelegte „Vergehen“ geleugnet. War die Denunziation des Melkers Gessmann an den Haaren herbeigezogen? Der Verdacht drängt sich auf; vor allem, wenn man erfährt, dass Gessmann, der von Nopper im Juni 1941 entlassen worden war und mittlerweile in St. Tönis wohnte, am 28. März 1942 wegen abfälliger Äußerungen über die Reichsregierung zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Gessmann hatte noch im Dienst beim Bauern Nopper in Kempen die abenteuerlichsten Sachen erzählt: Die deutschen Truppen seien am Meutern, in Berlin die Revolution ausgebrochen. Reine Hirngespinste. Zeugen sagten aus: Solche Redensarten führte er fast jeden Tag. Ernst zu nehmen waren seine Äußerungen also nicht, das war wohl auch bekannt, und trotzdem brachten sie Marian Kurzawa den Tod. Warum der Deutsche den polnischen Arbeitskollegen angezeigt hat? Vielleicht aus Sexualneid, vielleicht auch, weil er fürchtete, seinen Arbeitsplatz durch den schlecht bezahlten Polen zu verlieren. Kurzawa verdiente nämlich nur 26 Reichsmark im Monat.
War Gertrud Giesen sich der Tragweite ihres Verhaltens bewusst? Das kann bezweifelt werden. Das Gutachten ihres Gefängnisarztes Dr. Kirch kommt zu dem Schluss, dass die 1923 geborene – zum fraglichen Zeitpunkt 17 Jahre alt – ihrem Alter in körperlicher und geistiger Beziehung um ein bis zwei Jahre hinterher hinke.
Was damals im Hof Engerstraße 21 genau geschehen ist, kann man heute nicht mehr zuverlässig rekonstruieren. Dass Marian Kurzawa mit der siebzehnjährigen Magd intim geworden ist, scheint unwahrscheinlich. Wie allen polnischen Kriegsgefangenen, war ihm auf einem Merkblatt mitgeteilt worden, dass darauf die Todesstrafe stand, und die Kenntnisnahme davon hatte er auch unterschreiben müssen. Gertrud Giesen war, wie aus den Akten hervorgeht, körperlich voll entwickelt, in ihrer geistigen Entwicklung war sie jedoch auf dem Stand einer Fünfzehnjährigen. Sie hatte offensichtlich Verhältnisse mit mehreren Männern. So ist Marian Kurzawas Aussage: Ich glaube, dass sie mich durch ihre Angaben schädigen will, wohl so zu verstehen, dass sie sich an ihm rächen wollte, weil er sich nicht auf ein Verhältnis mit ihr einließ.
Josef Gessmann scheint ein Wichtigtuer gewesen zu sein. Er war dafür bekannt, dass er abenteuerliche Geschichten erfand. Offensichtlich hat er seinen Kollegen Marian Kurzawa verleumdet, weil er befürchtete, seine Stelle an ihn zu verlieren. Vielleicht war er auch eifersüchtig darauf, dass die Magd an dem gut aussehenden Kurzawa Gefallen fand, aber nicht an ihm.
Die Brüder Nopper haben versucht, Marian Kurzawa durch ein gutes Leumundszeugnis zu schützen. Als sie damit keinen Erfolg hatten, griffen sie zu dem einzigen Mittel, das ihnen blieb, um ihr Missfallen an seiner Verhaftung auszudrücken, und entließen den Denunzianten Josef Gessmann.
Im Juli 1941 verurteilte die erste Strafkammer des Landgerichts Krefeld das Mädchen im Namen des deutschen Volkes wegen verbotenen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten, wobei die Untersuchungshaft angerechnet wurde. Aber für das NS-System war das Vergehen der Minderjährigen damit nicht abgegolten. Schließlich verletzten deutsche Frauen die nationale Ehre, wenn sie einem deutschen Mann einen ausländischen und nun gar einen Slawen vorzogen und sich so als Gebärerin „deutscher“ Kinder“ verweigerten. Für den Fall, dass sie doch freigesprochen werden sollte, warteten schon zwei Krefelder Gestapo-Bedienstete im Gerichtssaal, die Gertrud Giesen dann in Schutzhaft bringen sollten – im Klartext: ins KZ. Denn bereits einen Monat zuvor hatte das Reichssicherheitshauptamt angeordnet, sie für die Dauer von drei Jahren in ein Konzentrationslager einzuweisen.
Gertrud Giesen verbüßte ihre Strafe im Gefängnis und Arbeitshaus Vechta, wurde dann ins Gerichtsgefängnis Krefeld (Steinstraße) überstellt, von wo sie im Dezember 1941 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert wurde. Als politischer Häftling musste sie einen roten Winkel tragen, fuhr Kohlen und arbeitete in einer Strohflechterei. Im März 1942 wurde sie in das Konzentrationslager Auschwitz überstellt. Dort arbeitete sie in der Wäscherei und dann in Auschwitz-Birkenau, wo sie beim Abbruch des berüchtigten Vernichtungslagers anpacken musste.
Im November 1944 war ihre Haftstrafe verbüßt. Trotzdem wurde sie nicht entlassen. Als das KZ vor der vorrückenden Roten Armee evakuiert wurde, kam sie nach Malchow bei Waren in Mecklenburg. Dort lag ein Außenkommando des KZ Ravensbrück, und die Häftlinge mussten in einer Munitionsfabrik arbeiten. Erst als im Mai 1945 amerikanische Truppen Malchow besetzten, endete für die junge Frau ihre Haftzeit, die Anfang Januar 1941 in Kempen begonnen hatte.
Im Juli 1945 kehrte Gertrud Giesen nach St. Hubert zurück. Zunächst bekam sie vom Kreisfürsorgeamt 150 RM, um sich Kleidung und Wäsche beschaffen zu können, aber im September 1948 wurde ihr der Status als politisch Verfolgte aberkannt. Warum? Am 24. September 1948 hatte der NRW-Sozialminister entschieden, dass das Verbot des Umganges mit Kriegsgefangenen kein rein nationalsozialistisches war. Eine zweifelhafte Entscheidung! Schließlich war die junge Frau ins Gefängnis und KZ gekommen, weil ein rassistisches Regime ihren Umgang mit einem Polen als Verletzung des gesunden Volksempfindens ansah; eine einwandfrei nationalsozialistische Denkschablone. Als sie dagegen anging, wurde ihr mitgeteilt, dass ihr Kontakt mit Marian Kurzawa hätte politisch motiviert sein müssen. Im Juni 1950 wurde ihre dreieinhalbjährige KZ-Haft immerhin als nationalsozialistische Willkür eingestuft, und sie erhielt 6300 Deutsche Mark als Entschädigung. Schließlich erstattete sie Anzeige gegen Josef Gessmann: Er habe sie damals wider besseren Wissens des verbotenen Umgangs mit polnischen Kriegsgefangenen beschuldigt. Im Mai 1951 wurde das Verfahren eingestellt. Das Gerichtsurteil gegen sie hat heute noch Bestand.
Marian Kurzawas Schicksal ist quellenmäßig gut belegt und wurde in der Literatur mehrfach dargestellt.
Quellenangaben:
Kreisarchiv Viersen, Kreisakten (KK) 7916, Auszug aus dem Urteil des Krefelder Landgerichts;
Rheinisches Landesarchiv, NW RW 53-36718 und ebenda, RW 58-47175: Akten der Gestapo Düsseldorf
Literatur
Aurel Billstein, Fremdarbeiter in unserer Stadt 1939-1945: Kriegsgefangene und deportierte „fremdvölkische Arbeitskräfte“ am Beispiel Krefelds, Frankfurt am Main, Röderberg, 1980, S. 40 f.;
ders., Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter in Krefeld: 1939 bis 1945: eine Dokumentation der Geschichtswerkstatt Krefeld (Edition Billstein), Oberrstadtdirektor der Stadt Krefeld (Herausgeber), Krefeld 1994, S. 36;
Reinhard Schippkus, Marian Kurzawa und Gertrud G., zwei Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Kempen, in: Heimatbuch des Kreises Viersen55 (2004), S. 187-207;
Hans Kaiser, Kempen unterm Hakenkreuz. Band 2: Eine niederrheinische Kreisstadt im Krieg (Schriftenreihe des Kreises Viersen 49,2), Viersen 2014, S. 288-292;
Friedhelm Weinforth, „Schwarze Hunde – beamtet, bieder und klerikal folgsam“. Einblicke in die Tätigkeit der Geheimen Staatspolizei in Kempen und St. Hubert, 1933-1945, in: Heimatbuch des Kreises Viersen 43 (1992), S. 134-157, hier S. 146 f.