Wir erinnern an Leo Hirsch
Geboren: 8.8.1905 in Kempen
Gestorben: 26.11.1974 in Ashford/England
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Peterstraße 23
Verlegedatum: 24.11.2016
Patenschaft: Familie Renkes
An der Peterstraße 23 betreibt der jüdische Metzgermeister Isidor Hirsch eine florierende Metzgerei. Seine Fleischwaren sind für ihre hohe Qualität bekannt. Zwei seiner Kinder – Leo, geboren am 8. August 1905 und Paul, geboren am 2. August 1909 – wollen seine Nachfolge antreten. Leo hat auf dem Thomaeum die Mittlere Reife gemacht und ist 1925 als Geselle in das väterliche Geschäft eingetreten. Als sein jüngerer Bruder Paul mit 15 nach vier Jahren Thomaeum die achtjährige Schulpflicht erfüllt hat, stellen die Eltern ihn vor die Wahl, entweder bessere Zeugnisse nach Hause zu bringen oder im väterlichen Geschäft mitzuarbeiten. „Die Bücher ins Regal, und her mit der Metzgerschürze“, beschreibt Paul Hirsch einen Entschluss, den er nie bereuen sollte. Nach dreijähriger Lehre (mit einem Berufsschultag in der Woche) besteht er die Gesellenprüfung. 25 Jahre alt, erwirbt er im Juni 1934 vor der Handwerkskammer Düsseldorf den Meisterbrief – gemeinsam mit seinem vier Jahre älteren Bruder Leo. Während der Vater jetzt nur noch für den Viehhandel firmiert, betreiben die Brüder ab 1935 als Geschwister Hirsch die Metzgerei – und genießen bei den Kempenern bald ein hohes Ansehen:
Am Vormittag des 10. November 1938 stecken Kempener SA-Männer die Synagoge an der Umstraße in Brand. Sie verwüsten die jüdischen Wohnungen und Geschäfte. Die Kempener Polizei verhaftet die jüdischen Männer. Nur einen Leo Hirsch (33) bekommen sie nicht: Er hält sich gerade in Krefeld auf. Leo versteckt sich die Nacht und den folgenden Tag bei der Bauernfamilie Klaps in Schmalbroich und wird dann von seinem Hausarzt Dr. Edmund Straeten, einem Nachbarn, unter dem Vorwand, er habe eine Lungenentzündung, im Kempener Krankenhaus in Sicherheit gebracht.
Leos 29jährigen Bruder Paul überraschen die Beamten auf der Straße bei Einkäufen. Die Juden werden zur alten, jetzt leer stehenden Polizeiwache gebracht, die an der Umstraße im selben Gebäude wie die Wache der Feuerwehr liegt. Hier pfercht man sie in die beiden Arrestzellen, die zur Hofseite hin liegen. Gleich nebenan brennt ihre Synagoge; durch die vergitterten Fenster sehen die Männer die Flammen, hören das Knacken der verbrennenden Holzteile und das Krachen der einstürzenden Balken.
Am nächsten Tag, Freitag, 11. November, bringt man die verhafteten Kempener Juden in das Zuchthaus Anrath. Diejenigen, die 55 Jahre oder älter sind, werden nach einigen Tagen entlassen. Die jüngeren fahren ohne Verpflegung mit einem Sonderzug der Reichsbahn nach Dachau bei München und kommen in das dortige KZ. Darunter auch Paul Hirsch. „Bald waren wir kahl geschoren und steckten in einem blau-weiß gestreiften Sträflingsanzug“, hat er später berichtet. „Arbeiten mussten wir nicht. Aber morgens um sechs traten wir zum Zählappell auf dem Appellplatz an. Stunden lang standen wir so, und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand durfte da fehlen. Die Kranken wurden von vier Kameraden auf Bettlaken hingetragen. Jeden Tag starben einige während dieses Appells und blieben auf dem Boden liegen, wenn wir losmarschierten. Stunden lang marschierten wir um den großen Platz. Zum Frühstück gab es Kaffee und eine Scheibe Brot; als Hauptmahlzeit einen Topf voll Suppe aus Kutteln, wieder mit einer Scheibe Brot. Es dauerte nicht lange, bis man entkräftet war. Jede beliebige Krankheit konnte dich erwischen, und eine Behandlung gab es nicht.“
Nach Pauls Entlassung aus Dachau am 30. Dezember 1938 betreiben die beiden Brüder intensiv die Auswanderung – erst nach Neuseeland, dann, als dort die Anforderungen unerfüllbar werden, nach England. Dort haben Freunde ihnen Arbeit auf einer Farm vermittelt und eine Kaution für sie gestellt. Am 25. August 1939 erhalten Leo und Paul per Post ihre englischen Einreiseerlaubnisse, worauf die Kempener Polizei ihnen ihre Reisepässe aushändigt. Ein Kempener Freund, der schon lange in den Niederlanden wohnt, Fritz Lambertz, bietet an, ihnen mithilfe seiner guten Beziehungen ganz unbürokratisch die Einreisevisa in ihren Pässen auf dem britischen Konsulat in Den Haag zu besorgen. Sie müssen nur zu ihm nach Venlo fahren und ihm ihre Pässe zukommen lassen. Als sie am 1. September 1939 in den Zug nach Venlo steigen, ist es fünf Minuten nach zwölf: Am frühen Morgen sind die deutschen Truppen in Polen einmarschiert, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann Polens Beistandspartner England dem Deutschen Reich den Krieg erklärt und der Schiffsverkehr über den Kanal eingestellt wird. Mit den rettenden Visa in ihren Pässen stechen die Kempener Brüder am Samstagmorgen, 2. September, mit der letzten Fähre von Vlissingen aus in See. Am darauf folgenden Sonntag, 11.15 Uhr, hört Paul Hirsch, wie im englischen Rundfunk Premierminister Chamberlain den Kriegszustand mit Deutschland verkündet. Jetzt kämen sie nicht mehr weg: Die Navy läuft aus, um die Seefahrt im Kanal zu überwachen.
Keine acht Jahre später, nach Aufenthalten in Internierungslagern in England und Kanada, nach harter Arbeit und eisernem Sparen, kaufen Paul und Leo Hirsch sich in Ashford in der Grafschaft Kent einen Bauernhof – die Bilham-Farm. Leo verstirbt in Ashford/Kent am 26. November 1974. Paul Hirsch zieht 1954 nach Dublin, geht dann in die USA. 96 Jahre alt, stirbt er in Seattle/Washington am 22. Oktober 2005.