Johanna (Hannchen) Hirsch – vergast in Treblinka

Wir erinnern an Johanna (Hannchen) Hirsch

Geboren: 2.1.1875 in Kempen
Gestorben: 1942 in Treblinka
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Peterstraße 23
Verlegedatum: 24.11.2016
Patenschaft: Familie Renkes

 

Die Eheleute Isidor und Johanna Hirsch und Isidors Schwester Hannchen –vergast in Treblinka

 

Hirsch02Das Schaufenster des einstigen jüdischen Geschäfts Hirsch, Peterstr. 23, das durch die Schikanen der Nazis in den Ruin getrieben wurde. Ab 1963 befand sich in dem Haus der Friseursalon Wersch. Im Zuge des Kolpinghaus-Neubaus an der Peterstraße wurde das Gebäude 1979 abgerissen.
Bild: Hella Furtwängler

 

 

 

 

 

 

Hirsch03Interkonfessionelle Nachbarschaft. Ein Alltagsbild der Peterstraße aus den Zwanzigern. In der Häuserreihe links sehen wir das Haus des Kempener Arztes Dr. Edmund Straeten, rechts daneben (mit Schaufenstern) das Möbelgeschäft Wilhelm Renkes; hinter dem Hessenwall folgt, hier mit einem Pfeil bezeichnet, die Metzgerei Hirsch.
Bild: Kreisarchiv.

1931 gab es in Kempen 19 Metzgereien, davon war eine jüdisch: Die von Isidor Hirsch, Peterstr. 23. Der Metzger und Viehhändler war am 12. August 1872 in Kempen geboren worden. Verheiratet war er mit Johanna geborene Kaufmann, die am 9. September 1874 in Kommern zur Welt gekommen war. Die beiden bekamen sechs Kinder: Ernst (⃰18. März 1904), Leo (⃰8. August 1905), Walter (⃰ 6. September 1906), Martha (⃰ 4. April 1908), Paul (⃰ 2. August 1909), Emmy (⃰ 11. November 1911).

Der Familienbetrieb konnte sich gut behaupten, denn seine Produkte hatten eine hohe Qualität. Ihr Schlachtvieh mästeten die Hirschs auf Weiden vor der Stadt selbst, sie führten die Rinder aus Ostpreußen ein. Die Familienmitglieder arbeiteten hart, ihr Geschäft war sechs Tage in der Woche geöffnet und sonntags einen halben Tag. „Das waren anständige Leute“, erinnern sich Zeitzeugen. „Manchen Arbeitslosen oder kinderreichen Familien gaben sie ein Stück Wurst dazu.“ 95 Prozent der Kunden waren hier Nicht-Juden. Deshalb bot die Familie Hirsch, die privat die traditionellen Speise-Vorschriften streng beachtete, zum Verkauf auch Produkte an, die zwar makellos waren, aber durch die jüdischen Speisegesetze verboten; aber auch so manches Stück vom Schwein, das nun mal preiswerter ist als Rindfleisch. Hätte sie das nicht getan, hätte sie das Geschäft nicht führen können.

Isidor Hirschs Betrieb war um einen kleinen Hinterhof gruppiert, auf den man vom Hessenwall durch einen Torbogen gelangte. Er bestand aus einer modernen Wurstküche, einem Schlachthaus und einer Stallung für ungefähr 20 Stück Rindvieh. – Im Laden hatte die am 2. Januar 1875 in Kempen geborene Johanna Hirsch das Sagen – eine jüngere, unverheiratete Schwester des Betriebsinhabers. Bei ihren Kunden war sie höchst beliebt und in ganz Kempen nur als Hirsch Hannchen bekannt.

Hirsch04Noch sind die Zeiten glücklich. Auf diesem in Deutschland bisher unveröffentlichten Bild, aufgenommen 1931 in Berlin bei der Hochzeit des ältesten Sohnes Ernst, sind in der oberen Reihe ganz rechts Ernsts Eltern zu sehen: der Kempener Metzgermeister Isidor Hirsch und seine Ehefrau Johanna. Links in der mittleren Reihe, neben dem Brautpaar, sitzt Isidors Schwester Hannchen, die „Seele des Geschäfts“ an der Peterstraße. Im September 1942 wurden Isidor, seine Frau und seine Schwester in Treblinka ermordet. Von den 16 abgebildeten Personen der Hochzeitsgesellschaft wurden acht Opfer des Holocaust.
Foto: Wally Hirsh, Out of the Shadows, 2013

1933: Die Nazis kommen an die Macht. Ein Jahr später wird Isidor Hirsch die Anpachtung seiner städtischen Viehweiden gekündigt, die Pachtländerei geht an den Ratsherrn und Ortsbauernführer Johannes Weeger. Seit 1935 wird das florierende Unternehmen auf Veranlassung der Kempener Nazi-Ortsgruppe boykottiert. Wer den Laden trotzdem betritt, wird von einem SS-Mann fotografiert, der hinter dem Wohnzimmerfenster eines Konkurrenzbetriebs steht, der gegenüberliegenden arischen Metzgerei. Infolge der Schikanen wirft die Metzgerei der Familie Hirsch an der Peterstraße keinen Gewinn mehr ab.

Isidor Hirsch verkauft seinen Besitz noch im selben Jahr an einen vertrauenswürdigen Nachbarn, an Heinrich Renkes, den Inhaber eines Möbelgeschäfts mit Schreinerei. Der Vertrag enthält eine Klausel, wonach das jüdische Ehepaar sechs Jahre lang die Wohnung im ersten Stock bewohnen darf. Hier hoffen die in Kempen verbliebenen Familienmitglieder – die Eltern und ihre beiden Söhne Leo und Paul –, einen Unterschlupf gefunden zu haben, bis sich eine Möglichkeit zur Ausreise bietet. Für den Beistand, den seine Familie in jener schweren Zeit von ihnen erfahren hat, wird Paul Hirsch den Renkes ein Leben lang dankbar sein. Jahrzehnte nach dem Krieg widmet er ihnen ein Exemplar seiner Lebenserinnerungen.

Im November/Dezember 1941 werden die Kempener Juden in so genannten „Judenhäusern“ zusammengepfercht: Es ist die Vorstufe zur Deportation. Die alten Eheleute Hirsch haben zwar ein notariell verbrieftes Bleiberecht in ihrem alten Haus, aber die Kempener Polizei schert das nicht, denn seit dem 6. Februar 1939 ist ein solches Wohnrecht verboten. Den Zwangsumzug leitet der Leiter der Kempener Polizei, der Polizeimeister Walter Rummler. Der besteht darauf, dass die Hirschs ihr Haus verlassen. Heinrich Renkes steht als Soldat in Russland; seine Frau Antonie liegt gerade nach der Entbindung des vierten Kindes, der Tochter Agnes, am 19. November 1941 im Krankenhaus. Vom Bett aus ruft sie Rummler an. Aber der Beamte glaubt, seine Pflicht erfüllen zu müssen und führt seinen Auftrag durch. So bringt die Kempener Polizei Isidor Hirsch, seine Frau Johanna und seine Schwester Hannchen im Dezember 1941 in das Haus von Siegmund Winter und dessen Tochter Carola, Josefstraße 5 (an der Stelle des heutigen Hauses Heilig-Geist-Straße 21), zusammen mit sechs weiteren jüdischen Frauen und Männern.

Hirsch05Immer korrekt! Nachdem die Familie Hirsch 1938 in gegenseitigem Einvernehmen ihr Haus an die befreundete Nachbarsfamilie Heinrich Renkes verkauft hatte, lebte die Familie dort zur Miete. 1939 emigrierten die beiden Söhne Leo und Paul nach England, und Isidor und Johanna Hirsch blieben allein zurück. Im Dezember 1941 wurden sie in das Judenhaus Josefstr. 5 verbracht. Bei dieser Gelegenheit bekam Johanna Hirsch (67) im voraus gezahlte Miete von den Renkes zurück – und quittierte ordnungsgemäß. Sieben Monate später wurden die Eheleute nach Theresienstadt deportiert.

Am 24. Juli 1942 werden die Eheleute Johanna und Isidor Hirsch, 68 bzw. 70 Jahre alt, und Isidors Schwester Johanna, genannt Hannchen (68), mit anderen älteren Juden aus Kempen in die Vernichtung gebracht. Mit dem „Schluff“, der Industriebahn, heute als idyllischer Ausflugszug bekannt, geht die Fahrt nach Krefeld. Hier steigen die Deportierten in einen Zug, der sie über Düsseldorf zum KZ Theresienstadt bringt. Schon am 21. September 1942 werden die Eheleute Hirsch aus Kempen weiter nach Treblinka gebracht. Acht Tage später folgt ihnen Isidor Hirschs Schwester Hannchen. In den Gaskammern des Vernichtungslagers nordöstlich von Warschau sind die drei ermordet worden.

Ihre zurückgelassene Habe wird auf Anweisung des Kempener Finanzamts öffentlich versteigert. Aber die besten Stücke sind schon weg, als der Hammer fällt. Offensichtlich haben sich hier Angehörige von Stadtverwaltung und Polizei bedient. Das Finanzamt selbst bereichert die Ausstattung seiner Büroräume im ehemaligen Franziskanerkloster um jüdische Möbel: Unter anderem vereinnahmt es den Schreibtisch und den Schreibtischsessel des Metzgermeisters Isidor Hirsch, Peterstraße 23. Nachzulesen in Akten des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen.