Wir erinnern an Isidor Lambertz, der am 26. März 1942 in Riga von lettländischer Polizei in einem Massengrab erschossen wurde.
Geboren: 7.9.1878 in Kempen-St.Hubert
Gestorben: 26.3.1942 in Riga
Opfergruppe: Jude
Verlegeort: Hauptstraße 43, Kempen-St.Hubert
Verlegedatum: 29.5.2018
Patenschaft: Georg Lüdecke
Isidor Lambertz entstammt einer alteingesessenen Kempen-St. Huberter Familie. Vorfahren von ihm sind in Kempen bereits 1821 nachweisbar. Als Sohn von Salomon und Judula Lambertz wurde er am 7. September 1878 in St. Hubert geboren. Er war ein sozialer und toleranter Mann – auch in Glaubensdingen. Als am 22. September 1929 der Bischof von Münster Johannes Poggenburg St. Hubert besuchte, unternahm ihm zu Ehren der örtliche Radfahrverein eine Bischofsfahrt. Dabei strampelte auch Isidor Lambertz mit. An seine Lenkstange hatte er ein Schild gebunden, das allen verkündete: Ich bin zwar ein Israelit, aber ich ehre doch den Bischof.
Isidor Lambertz erste Frau Julie verstarb bereits 1917. In zweiter Ehe heiratete er Mathilde geborene Koopmann aus Weeze. Mit ihr lebte er in dem zweigeschossigen Haus Hindenburgstraße 41 neben dem Südeingang des alten Friedhofs. Die Ehe der beiden blieb kinderlos. Deshalb adoptierten Isidor und Mathilde Lambertz den 1928 in Leipzig geborenen Hans Felix. Sein ursprünglicher Familienname ist unbekannt.
Als ihre Wohnung im Zuge der Pogromnacht am 10. November 1938 demoliert worden ist, ahnen die Eheleute, was auf sie zukommt. Mit Hilfe ausländischer Organisationen bemühen sie sich, ihren zehnjährigen Adoptivsohn Hans Felix in Sicherheit zu bringen. Sie bringen sich aber auch selbst ein. Ihr großes Haus an der Hindenburgstraße 41 wird zum Unterschlupf für jüdische Kinder, die über die Grenze in die Niederlande gebracht werden sollen. Auch im benachbarten Haus von Isidors Schwester Wilhelmine kommen jüdische Kinder unter. Diese Kinder brauchen Brot. Deshalb geht Hans Felix jeden Abend mit zwei großen Taschen in den Laden des Bäckermeisters Josef Pasch, Königstraße 32, der als Gegner der Nazis bekannt ist. Dort wartet er, bis der letzte Kunde den Verkaufsraum verlassen hat. Um die Zeit des Wartens unauffällig zu überbrücken, unterhält er sich dann gerne mit Jupp, dem vier Jahre jüngeren Sohn des Bäckermeisters. Die beiden freunden sich an. Jupp Pasch kann sich an seinen jüdischen Freund heute noch gut erinnern. Er berichtet:
„Dass Hans Felix ein Adoptivkind war, wusste ich nicht; ich hätte mit dem Begriff damals auch nichts anfangen können. Immer wurde er als Letzter bedient, damit es keine Zeugen für seinen „Einkauf“ gab. Manchmal erzählte er dann mit mir, wenn auch ich gerade im Laden war. Meine Mutter packte ihm – natürlich mit Wissen meines Vaters – dann die Taschen voll Brot und erließ ihm jedes Mal die Bezahlung. Für mich war das nicht ungewöhnlich, weil die meisten Kunden „anschreiben“ ließen und erst am Wochenende, nach Erhalt des Lohnes, bezahlten. Erst einige Jahre später habe ich von meiner Mutter erfahren, dass in den beiden so genannten Judenhäusern an der Hauptstraße jüdischen Kindern Obdach gewährt wurde, denen im Ausland eine Bleibe verschafft werden sollte. Die Kinder hielten sich so lange versteckt in den Häusern an der Hauptstraße auf, um dort in der Zeit bis zur Ausreise unbehelligt von den Nazis leben zu können. Sie wurden dann später von Gewährsleuten abgeholt und ins Ausland verbracht.“
Es gelingt den Eheleuten Isidor und Mathilde Lambertz, ihrem Adoptivsohn Hans Felix und den anderen jüdischen Kindern die Aufnahme in einem niederländischen Kinderheim zu ermöglichen und sie so vor der Ermordung zu bewahren. Am 27. Januar 1939 verlässt Hans Felix Lambertz St. Hubert. Dazu Jupp Pasch: „Vor seiner Ausreise in die Niederlande schenkte Hans Felix mir zum Abschied ein Märchenbuch mit dem Titel „Gefrorene Scheiben – Märchen“. Ich besitze es heute noch. Das Buch enthält – mit Tinte geschrieben – das Signum „Hans Felix Lambertz“. Darunter steht mit Bleistift geschrieben: „… schenkt Josef Pasch dieses Buch.“
Kurz bevor die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande besetzt, gelangt Hans Felix durch die Initiative seiner Tante Auguste Viktoria Koopmann nach England, zu einer Pflegefamilie namens Van Zwanenberg in Eastbourne/Sussex. Als Erwachsener arbeitet er in England als Gärtner und auch bei einer Rettungsorganisation, bis er Ende der Sechzigerjahre nach Österreich zieht. Hier verstirbt er am 3. Januar 2015 in Innsbruck. Von allen, die ihn gekannt haben, wird er als „herzensguter“, ruhiger und vor allem extrem bescheidener Mensch bezeichnet.
Hans Lambertz’ Adoptiveltern, der dreiundsechzigjährige Isidor Lambertz und seine drei Jahre jüngere Frau Mathilde geb. Koopmann, werden am 11. Dezember 1941 mit dem Zug von Kempen über Krefeld zum Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf deportiert. Von dort geht es weiter in das Getto von Riga. Hier verliert sich Mathildes Spur. Isidor Lambertz wird in das Lager Jungfernhof gebracht, einen Gutshof auf freiem Feld in der Nähe der Düna. Hier soll ein Mustergut für die deutsche Ostkolonisation entstehen, mit deutschen Herrenmenschen und jüdischen Sklavenarbeitern. Aber durch die Unterbringung von Angehörigen der vier Transporte im Dezember 1941 sind die heruntergekommenen Gebäude überbelegt. Wer zu schwach ist, beim Ausbau des landwirtschaftlichen Gutes zu helfen, wird umgebracht.
Bei einer Vernichtungsaktion am 26. März 1942 lädt man an die 1.800 Menschen aus diesem Lager auf Lastautos und bringt sie zur Erschießung in den Wald von Bikerneki, darunter auch den alten Isidor Lambertz aus St. Hubert. Was die Opfer während der grausamen Prozedur erlebt und empfunden haben, können Worte kaum ausdrücken. Einen schwachen Eindruck vermittelt der Bericht eines Augenzeugen, des lettischen Hilfspolizisten Peteris Iklaws:
„Nachdem man die Juden aus einem Auto abgesetzt hatte, wurde ihnen in deutscher Sprache befohlen sich zu entkleiden. Die Juden begriffen, was mit ihnen geschehen würde. Darum zogen sich einige vor lauter Kopflosigkeit nicht aus. Ihnen zogen Polizisten die Kleider gewaltsam vom Leibe, und man entkleidete sie bis auf die Unterwäsche. Nachdem ich zusammen mit anderen Polizisten die Juden an den Erschießungsort gebracht hatte, ging ich einige Male vom Auto weg und näher zur Grube hin, weil ich daran interessiert war zu sehen, was sich dort eigentlich abspielte. Da sah ich, wie man die Juden in die Grube trieb, und Polizisten schossen auf sie mit Maschinenpistolen. Auch deutsche Offiziere des Sicherheitsdienstes der SS waren dabei. Sie gingen neben der Grube hin und her und schossen mit ihren Pistolen auf die Opfer.“
Quellen
Zu Hans Felix Lambertz
Kreisarchiv Viersen: Stadtarchiv Kempen Nachlass Martens 287; zu Hans Felix‘ heimlichen Wegzug aus St. Hubert in die Niederlande s. Kreisarchiv Viersen, Meldekartei St. Hubert (Für den Hinweis und die Beschaffung einer Kopie habe ich Vera Meyer-Rogmann vom Kreisarchiv zu danken.); Brief von Jupp Pasch, St. Hubert, Am Dixhof 6, an Hans Kaiser, vom 15. März 2018; Mail-Korrespondenz zwischen Hans Kaiser und Hans Felix Lambertz‘ Sohn Stefan Lambertz, Gnadenwald 77b, 6069 Gnadenwald/Tirol, Österreich im Januar/Februar 2018.
Zu Isidor Lambertz
Zur Bischofsfahrt von 1929 s. Pfarrarchiv St. Hubert, Pfarrliche Vermeldung vom 22.9.1929; Mitteilung von Pfarrer i. R. Hermann-Josef Ortens vom 16.4.2009. Zur Arisierung seines Hauses Hindenburgstr. 41 s. Landesarchiv NRW R BR 1411-206; Kreisarchiv Viersen, Stadtarchiv Kempen A 3220. Zu seiner Deportation s. den Bericht des Kempener Oberinspektors Hubert Brünen über den Verbleib der St. Huberter Juden (Kreisarchiv Viersen, Stadtarchiv Kempen A 2835) und Kreisarchiv Viersen, Nachlass Martens 287. Zur Verwendung seines Hauses anschließend s. Wolfgang Madert, Erlebtes und Erdachtes. Lebenserinnerungen, St. Hubert o. J., S. 59.
Zu Mathilde Lambertz
Zum Verbleib der Ehefrau(en) von Isidor Lambertz gibt es widersprüchliche Angaben. Einerseits führt der von Rodney Eisfelder, Melbourne, erarbeitete und uns von Tina Hellmich, Kreisarchiv Viersen, übermittelte Stammbaum der Familie Lambertz die gemeinsame Deportation von Isidor Lambertz und seiner ersten Frau Julie geb. Grünwald nach Riga auf; auch Arthur Winter nennt in seinem Bericht „Über das Schicksal der Kempener Juden, die im Dezember 1941 deportiert wurden“ (Typoskript 1946, Kreisarchiv Viersen, Stadtarchiv Kempen, Sammlungen 26, S. 10) Julie Lambertz, geb. am 18.11.1878. Andererseits stellt Hannes Martens dar, Julie Lambertz sei in St. Hubert eines natürlichen Todes verstorben und Isidor Lambertz habe in zweiter Ehe Mathilde geb. Koopmann aus Weeze, dort geboren am 4.10.1887, geheiratet, die mit ihm nach Riga deportiert worden und dort gemeinsam mit ihm durch Gas (?) umgekommen sei (Kreisarchiv Viersen, Nachlass Martens 287). Das wird auch durch das Buch des Gedenkens, hg. vom Bundesarchiv, Bd. 2, Koblenz 1986, S. 708 bestätigt. Tatsächlich verstarb Julie Lambertz schon am 22.7.1917 im Kempener Hospital (Kreisarchiv Viersen, Sterbebuch Kempen 125/1917; ebenda, Stadtarchiv Kempen A 1313 Bl. 126).
Literatur
Zu Hans Felix Lambertz
Hans Kaiser, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2: Eine niederrheinische Kreisstadt im Krieg (Schriftenreihe des Kreises Viersen 49,2), Viersen 2014, S. 336, 399, 468.
Zu Isidor und Mathilde Lambertz
Zu Isidor Lambertz‘ Ermordung s. Winter, Arthur, Über das Schicksal der Kempener Juden, die im Dezember 1941 deportiert wurden, Typoskript 1946 (Kreisarchiv Viersen, Stadtarchiv Kempen, Sammlungen 26, S. 10) und vor allem die detaillierte Darstellung der sog. Aktion Dünamünde bei Andrej Angrick-Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1944 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 6), Darmstadt 2006, S. 342-345; zur Verfolgung der Eheleute insgesamt Kaiser, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2, S. 309, 336, 376, 388, 399, 411, 416, 418, 421, 430f., 440, 444, 468.